Diesen Satz, "Der Flieger tut gar nichts, der Fänger alles", habe ich das erste mal auf der Beerdigung meiner Freundin im März 2022 gehört.
Sie war 2018 an ALS erkrankt und ein durchaus österlicher Mensch. Obwohl sie durch die Krankheit nicht mehr ihren geliebten Beruf als Grundschullehrerin ausüben konnte, hatte sie trotzdem nicht ihre Lebensfreude verloren. Im Gegenteil, sie sagte, "jetzt wird mein Leben verlangsamt und ich habe Zeit endlich einmal das zu tun, wofür ich sonst nie Zeit hatte".
Und wenn ihr beim Wäsche holen aus dem Keller, auf der obersten Stufe der Korb aus der Hand fiel und sie wieder ganz nach unten mußte, hat sie nur darüber gelacht. Auch als sie später dann im Rollstuhl sitzend, immer wieder einmal mit der Technik gekämpft hat und ihr so manches Missgeschick passierte, habe ich sie immer geduldig erlebt und sogar daß sie sich über die Situation lustig gemacht hat.
Sie war ein durchaus positiver Mensch. Als ihr jüngster Sohn sie einmal danach fragte, wer denn mit ihm die Mathehausaufgaben machen werde, wenn sie einmal nicht mehr da ist, gab sie zur Antwort. "das weiß ich nicht, aber jetzt bin ich ja noch da, also bring sie mal her"!
Kurz vor Weihnachten habe ich sie noch einmal besucht, weil ihr Stimme schon schwächer wurde und sie im Rollstuhl sitzend nur noch die rechte Hand bewegen konnte. Wir haben uns über unsere damalige WG Zeit unterhalten, auch über ihre Zeit als Mutter und Lehrerin, und darüber wie sie jetzt das Leben meistert. Auch hier hat sie immer wieder mit ihrem Mann der sie liebevoll gepflegt hat, sehr viel gelacht.
Ich habe sie drauf hin gefragt, woher sie ihre Kraft nimmt. Sie antwortete mir: "Weißt Du, es macht keine Sinn in der Vergangenheit zu leben, oder gar an die Zukunft zu denken. Wichtig ist es im Hier und Jetzt zu leben. Und das tue ich. Ab dem Zeitpunkt wo ich meine Diagnose bekommen habe, verspürte ich einen tiefen Frieden in mir. Und ich empfinde so viel Dankbarkeit für mein Leben. Ich habe so ein schönes Leben gehabt"!
Das hat mich zutiefst berührt. Und ich habe gemerkt, dass das vollkommen authentisch aus ihrem Mund kam.
So haben wir uns verabschiedet, wohl wissend dass wir uns nicht mehr sehen werden. Am 4. März bin ich zu ihrer Beerdigung gefahren. In einer kleinen Kapelle war das Requiem. Und ich habe selten so eine unglaubliche hoffnungsfrohe Beerdigung erlebt. Ja, natürlich war da der Schmerz bei ihrem Mann und den 6 Kindern, bei den Angehörigen und auch mir. Aber gleichzeitig war auch ganz viel Hoffnung zu spüren. Hoffnung und Freude darüber, daß es sie gegeben hat. Das sie mit ihrer Lebensfreude so vielen Menschen etwas weitergeben hat, wodurch wir alle gestärkt wurden.
Und in diesem Requiem wurde die Geschichte erzählt von Henry Nouwen und seinem Gespräch mit Rodleigh, dem Trapezkünstler. Diese Geschichte kam das erste mal im Zusammenhang mit ihrem 50. Geburtstag zum Vorschein.
Der niederländische Priester, Psychologe und geistliche Schriftsteller Henri Nouwen erzählt über eine Begegnung mit Zirkus-Trapezkünstlern. In seinem Buch „Die Gabe der Vollendung" schreibt er:
Eines Tages saß ich mit Rodleigh, dem Leiter der Truppe, in seinem Wohnwagen und unterhielt mich mit ihm übers Fliegen durch die Luft. Er sagte:
„Als Luftspringer muss ich absolutes Vertrauen auf den haben, der mich auffängt. Sie und das Publikum halten vielleicht mich für den großen Star am Trapez, aber der wirkliche Star ist Joe, mein Fänger. Er muss für mich im Bruchteil einer Sekunde parat sein und mich aus der Luft angeln, wenn ich im hohen Bogen auf ihn zufliege."
„Wie klappt das immer?", frage ich zurück.
„Nun, das Geheimnis besteht darin, dass der Flieger nichts tut und der Fänger alles! Wenn ich auf John zufliege, muss ich bloß meine Arme und Hände ausstrecken und darauf warten, dass er mich auffängt und sicher auf die Rampe zurücksetzt."
„Und Sie tun dabei nichts!", erwiderte ich ziemlich überrascht.
„Nein, gar nichts," wiederholte Rodleigh. „Das Schlimmste, was der Flieger tun kann, ist, nach dem Fänger greifen zu wollen. Aber ich soll ja nicht Joe auffangen, sondern er mich. Würde ich nach Joes Handgelenken greifen, könnte ich sie brechen, oder er könnte die meinen brechen, und das wäre für uns beide das Aus! Ein Flieger soll nichts als fliegen, ein Fänger nichts als auffangen; und der Flieger muss mit ausgestreckten Armen völlig darauf vertrauen, dass sein Fänger im richtigen Augenblick nach ihm greift."
In: Henri J.M. Nouwen, Die Gabe der Vollendung. Mit dem Sterben leben. Aus dem Amerikanischen übertragen von Bernardin Schellenberger, Verlag Herder GmbH, Freiburg i.Br 1994, S. 81-82.
Ein wunderbare Geschichte vom Vertrauen in einen G*tt von dem sie wußte, das er sie auffängt. So hat sie gelebt und so ist sie gestorben.
Am Ende des Gottsdienstes haben wir das Lied Großer Gott wir loben dich gesungen. Zuerst fiel es mir schwer, mit diesen Kloß im Hals zu singen. Und es ging fast gar nicht. Aber je mehr ich mich darauf einlassen konnte und an ihre Lebensfreude und ihren festen Glauben gedacht habe, um so mehr kamen die Töne aus meinem Hals. Und es war schön und stärkend gemeinsam dieses Lied zu singen. Dabei kam dann auch noch die Sonne durch die Fenster...
Und so gehen wir weiter unseren Weg, in Gedanken an sie und an ihr großes Vertrauen!
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